Wer kennt es nicht: Auf dem Weg zur Arbeit sicher über die Autobahn navigieren, in der Hand einen Kaffee jonglieren und mit halbem Ohr den Nachrichten lauschen während die Gedanken bereits um das Meeting kreisen, zu dem wir mit absoluter Sicherheit dank des Verkehrsaufkommens zu spät erscheinen. Klingt stressig? Ist es auch – denn das ist nur ein Bruchteil von dem, was wir in diesem Moment realisieren. Unser Gehirn selektiert hocheffizient verhaltensrelevante Informationen, die uns zielsicher durch den Alltag lotsen. Wie es das anstellt? Hierzu unternehmen wir einen kleinen Ausflug in die Welt der Neurowissenschaft um zu hinterfragen, wie das Gehirn Informationen weiterleitet und weshalb bestimmte Reize mehr Aufmerksamkeit erhalten als andere.
Dazu betrachten wir folgende Aspekte:
Hinweis: Das Lesen dieses Artikels benötigt etwa 10 Minuten und erfordert etwas kognitiven Aufwand. Wenn Du es eilig hast und trotzdem die Key-Facts mitnehmen möchtest, dann schaue Dir folgende Kurzversion an:
1. Hemisphärenmodell: Als populärwissenschaftliche Darstellung der Gehirn-Lateralisation ist das Hemisphärenmodell sowie eine exklusive Zuständigkeiten kognitiver Funktionen (logisch vs. kreativ) heute überholt.
2. Neuronales Netzwerk:Stand der Forschung ist, dass das Gehirn von einem Netzwerk an Neuronen überzogen ist, die miteinander über Synapsen kommunizieren. Die Informationsverarbeitung erfolgt schnell und parallel und ist durch automatische Aktivationsausbreitung gekennzeichnet.
3. Automatische Aktivationsausbreitung: Wahrnehmung ist nicht objektiv, sondern durch Vorwissen und Erfahrungen geprägt. Umweltreize verändern die Gehirnstruktur.
4. Funktionelle Integration: Der dynamische Informationsaustausch zwischen den Gehirn-Arealen wird als “Funktionelle Integration” bezeichnet und verbindet räumlich getrennte Elemente zu einer funktionellen Einheit über das Konstrukt der Konnektivität.
5. Konnektivität: Konnektivität zwischen Gehirnarealen bestimmt, welche Informationen welches Areal erreichen und wohin diese weitergeleitet werden. Man unterscheidet strukturelle und effektive Konnektivität. Effektive Konnektivität verändert sich je nach Situation dynamisch und steuert, welche Reize Aufmerksamkeit erhalten.
6. Informationsbewertungs-Hypothese: Treten zwei Reize parallel auf, werden beide an ein gemeinsames, übergeordnetes Nervenzellen-Areal weitergeleitet und konkurrieren dort um das Eingehen einer Verbindung mit diesem. Für den Stimulus, auf den unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist, wird die effektive Konnektivität erhöht, sodass dieser Reiz im Gehirn stärker repräsentiert ist. Schlussendlich “gewinnt” der Stimulus, der besonders verhaltensrelevant ist. (Mehr dazu: CTC-Hypothese (Communication Through Coherence))
Linke vs. rechte Gehirnhälfte - wirklich?
- Das lange Zeit populäre Hemisphärenmodell des Gehirns ist bestimmt dem ein oder anderen ein Begriff: Der linken Gehirnhälfte wurde bis dato als die rationale, analytische Hälfte bezeichnet, wahrend der rechten Seite kreative, musische und emotionale Eigenschaften zugeschrieben wurde.
Diese exklusive Zuständigkeit kognitiver Funktionen ist überholt. Heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass das Organ von einem komplex organisierten Neuronen-Netzwerk überzogen ist, das dynamisch in Verbindung steht. Dieses Netzwerk zeichnet sich durch eine Topologie, also eine bestimmte Struktur, aus: Knotenpunkte aus Nervenzellen, sogenannte Hubs, stehen mit Modulen (kleine intern eng vernetzte Areale) über Synapsen in Verbindung.
Synapsen dienen der Informationsübertragung von einer (Nerven-)Zelle zur anderen. Entweder werden elektrische oder chemische Signale über die Synapse an die Zelle weitergeleitet, die dort eine Zellantwort auslösen.
Dieses neuronale Netzwerk kann Informationen hocheffizient verarbeiten, da es durch folgende Eigenschaften charakterisiert ist:
- Schnelle, parallele Verarbeitung von Informationen
- Automatische Aktivationsausbreitung
- Einfluss von Vorwissen und Erfahrung
Automatische Aktivationsausbreitung? Das bedeutet, dass weiterführende Informationen, die mit einem Objekt unserer Aufmerksamkeit verknüpft sind, parallel abgerufen werden.
Exkurs: Da wir alle bestimmt gerne Kaffee trinken, machen wir einen gedanklichen Ausflug und klicken auf die Anzeige eines Kaffee-Online-Shops. Welche Eindrücke sind nun mit diesem Szenario verbunden? Das Schaubild zeigt, welche Assoziationen mit dem Begriff “Kaffee” unbewusst aktiviert werden (möglicherweise sind es noch mehr, die aktuell nicht ins Bewusstsein dringen):
Daraus folgt: Wahrnehmung ist nicht objektiv, sondern durch unser Vorwissen und unsere Erfahrung eingefärbt. Und so ergeht es wohl jedem Menschen, der auf einer Webseite oder einem Online-Shop landet. Sich dies bewusst zu machen, ist ein wichtiger Schritt, um sich Bedürfnissen und Ängsten von Nutzern anzunähern. An dieser Stelle schlagen wir die Brücke zum konstruktivistischen Weltbild: Jeder Mensch kreiert seine eigene Wirklichkeit. Aber nun zurück zu unserem neuronalen Netzwerk.
Informationsaustausch im Visier
Wir haben erfahren, dass das neuronale Netzwerk Informationen austauscht. Doch wie findet diese Kommunikation statt? Der dynamische Informationsaustausch zwischen den Arealen im Gehirn wird als “Funktionelle Integration” bezeichnet.
Funktionelle Integration verbindet räumlich getrennte Elemente zu einer funktionellen Einheit über das Konstrukt der Konnektivität.
Mit dem Schlagwort “Konnektivität” gelangen wir zu einem weiteren wichtigen Baustein der Informationsverarbeitung: Konnektivität zwischen Gehirnarealen bestimmt, welche Informationen welches Areal erreichen und wohin diese weitergeleitet werden. Dabei lassen sich verschiedene Konnektivitätsansätze unterscheiden:
- Strukturelle (funktionelle) Konnektivität: Erlaubt Informationstransfer zwischen den Neuronen, da eine anatomische Verbindungen untereinander bestehen.
- Effektive Konnektivität: Beschreibt, wie sich die einzelnen Areale gegenseitig beeinflussen. Im Vergleich zum strukturellen Ansatz werden hier kausale Annahmen getroffen.
Spannend ist, dass sich die effektive Konnektivität je nach Situation dynamisch verändert und das Gehirn so innerhalb von Sekundenbruchteilen neu bewertet, welche Reize vorrangig unsere Aufmerksamkeit erhalten.
Konnektivität in der Praxis
Nehmen wir an, wir sind immer noch auf der Suche nach köstlichen Kaffeebohnen und scrollen über die Seite des Online-Shops unserer Wahl. Plötzlich erscheint der Begriff “Süßes” in unserem Blickfeld und erhält sofort unsere Aufmerksamkeit. Wie werden diese beiden Reize nun weiterverarbeitet?
Die Hypothese lautet, dass diese Eindrücke an gemeinsames übergeordnetes Nervenzellen-Areal weitergeleitet werden und dort um das Eingehen einer Verbindung mit diesem Areal konkurrieren. Für den Stimulus, auf den unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist, wird die effektive Konnektivität erhöht, sodass dieser Reiz im Gehirn stärker repräsentiert ist.
Vielleicht halten wir gerade Diät, sodass der Stimulus “süß” im Gehirn stärker vorherrscht als der Stimulus “Kaffee”. Schlussendlich “gewinnt” der Stimulus, der besonders verhaltensrelevant ist.
Das heißt: Auch wenn Kaffee-Kaufen immer noch auf unsere mentalen Liste verankert ist, kann der Süß-Stimulus trotzdem als relevanter bewertet werden, da wird vielleicht gerade Hunger haben. Zu einem anderen Zeitpunkt kann der Prozess aufgrund dynamischer effektiver Konnektivität ganz anders verlaufen, da andere Reize vorrangig behandelt werden.
Fazit: Du bist Dein Gehirn
Wie diese Auswahl der relevanten Reize im Gehirn genau funktioniert, wird weiterhin untersucht. Die sogenannte CTC-Hypothese (Communication Through Coherence) versucht, diesen Auswahl-Prozess zu modellieren. Verschiedene Forschungsgruppen haben diese Theorie bereits vertestet. Mit solchen Modellen hoffen Wissenschaftler, Prozesse von Aufmerksamkeit und Selektion besser nachvollziehen zu können.
Auch im Hinblick auf das Schlagwort “Personalisierung” bietet das Wissen um neuronale Auswahl-Prozesse Chancen. Denn schlussendlich steht der Nutzer im Fokus der Aufmerksamkeit und wie sagt der Neurobiologe Dick Swaab mit seinem Buchtitel so schön: “Wir sind unser Gehirn”.
Literatur
- Eysenck, M.W. & Keane, M.T. (2015). Cognitive Psychology. A Student’s Handbook. New York: Psychology Press.
- Grefkes, C.; Eikhoff, S. & Fink, G. (2013). Konnektivität. In Schneider, Frank, Fink, Gereon R. (Hrsg.), Funktionelle MRT in Psychiatrie und Neurologie (2. Auflage). Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.
- Wunderle, T. (Forschungsbericht 2012) https://www.mpg.de/6891299/esi_jb_2012
- Wunderle, T. (Forschungsbericht 2016) https://www.mpg.de/10921592/esi_jb_2016